Grundsätzliches:
Seit über 30 Jahren gestalte ich in meiner Freizeit Bonsais und ich erlebe dieses Hobby als Bereicherung und Inspiration für mein Leben, die weit über das Pflegen von Topfpflanzen hinausgeht. Hier findest du die Essenz meiner Erfahrungen und vielleicht kannst du etwas für dein Hobby oder dein Leben aus meinen Gedanken mitnehmen.
Einen Bonsai haben oder einen Bonsai machen?
Die Pflege deines Bonsai hat immer zwei Dimensionen: ein Sein und ein Werden.
Es hängt darum sehr von deiner persönlichen Zielsetzung ab, ob du dir lieber einen fertig gestalteten Bonsai zulegst, um dich täglich an seiner Schönheit zu erfreuen, oder ob du über Jahre aus einer Jungpflanze, einem Samen oder einem Steckling einen Bonsai heranziehst. Im ersten Fall ist deine Aufgabe, die Ästhetik deines Bäumchens zu erhalten und über kleinere Eingriffe bestimmte Details zu verfeinern. Im zweiten Fall entwickelst du über viele Jahre durch deine Gestaltung den ganz persönlichen Charakter deines Bäumchens. Ich habe mich klar für den zweiten Weg entschieden, weil mir die Entwicklung und Realisierung eigener Ideen mehr gibt, als die Betrachtung von perfekter Ästhetik. Darum findest du in meiner Sammlung keine uralten makellosen Bonsai, sondern nur Bäumchen mit vielen kleinen und großen Schwächen. Der Reiz liegt aber darin, genau daran zu arbeiten.
Dann verschiebt sich von selbst irgendwann der Schwerpunkt vom Werden zum Sein!
Was muss man als Bonsai-Gärtner können?
Bei der Pflege deiner Bonsais brauchst du neben der puren kreativen Lust zu gestalten natürlich auch ein paar handwerkliche Techniken und botanisches Wissen, das es dir ermöglicht, deine Ideen auch umzusetzen, ohne dass die Pflanze Schaden nimmt. Hier schrecken viele zurück, weil dieses Hobby in der Wahrnehmung vieler Menschen ein wenig der Hauch des Geheimnisvollen, fast Mystischen umgibt. Das ist natürlich blanker Unsinn. Du brauchst weder endlos Zeit, um deine Bäumchen zu beschneiden, noch einen grünen Daumen oder besonderes Geschick. JEDER KANN BONSAI!
Es ist selbstverständlich, dass du die spezifischen Eigenheiten der Pflanze kennst, aus der du einen Bonsai machen möchtest, schließlich hast du es mit einem lebenden Organismus zu tun, der bestimmte Bedürfnisse hat (Standort, Licht, Wasser etc.), die erfüllt sein müssen, damit er gut gedeihen kann. Außerdem gibt es natürlich ein paar Techniken, die sich bei der Gestaltung über Jahrhunderte bewährt haben. Beides ist aber kein Hexenwerk und meist nur einen Mausklick entfernt. Der Rest ist learning by doing.
Die drei Gärtner
Für die Gestaltung deines Bonsais bist auf den ersten Blick natürlich du als Bonsaigärtner verantwortlich, aber wie sich dein Bäumchen letztlich entwickelt, darauf nehmen noch zwei manchmal recht eigenwillige "Kollegen" tatkräftig Einfluss: die Natur und die Zeit.
Will heißen, dass alles Schneiden, Drahten und Zupfen, mit dem du deinen Bonsai in die geplante Form bringen möchtest, nicht immer zum gewünschten Ziel führt. Manchmal hat die Natur da einfach andere Ideen. Da stirbt schon mal ohne ersichtlichen Grund der Hauptast deines Bäumchens ab und du hast statt einer dichten Krone plötzlich nur noch trockenes Gestrüpp.
Und wie jedes Lebewesen ist auch ein Bonsai den Launen des Schicksals und des Zufalls ein Stück weit ausgeliefert. Wenn z.B. die Nachbarskatze beschließt auszuprobieren, ob dein Bonsai als Kratzbaum geeignet ist, dann sieht das Bäumchen schnell anders aus als gewünscht.
Als Bonsaigärtner musst du akzeptieren, dass du nie die völlige Kontrolle über das Ergebnis deiner Tätigkeit haben wirst. Entscheidend ist, wie du mit dieser Tatsache umgehst. Natürlich kann es unglaublich frustrieren, wenn ein abgebrochener Gipfel die über Jahre herausgearbeitete Ästhetik deines Bonsais zunichte macht. Du kannst es aber auch als spannende Herausforderung betrachten und dich daran machen, dein Bäumchen in eine völlig neue Gestalt zu transferieren.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Natur und Zeit es vermögen aus jeder Pflanze eine spezifische Schönheit zu entwickeln und man selbst muss mit seinem Tun eigentlich nur diese Schönheit unterstreichen.
Welche positiven Effekte bringt das Gestalten von Bonsais für dich?
Auf der Suche nach einem erfüllten Leben zwingt uns die Moderne eine Reihe von Widersprüchen auf, denen gerecht zu werden uns manchmal überfordert.
So streben wir nach materiellem Erfolg und gleichzeitig soll unsere Tätigkeit unsere Lebenszeit mit Sinn und Freude füllen und idealerweise engagieren wir uns über den Beruf hinaus für unser Gemeinwesen.
Wir suchen Glück und Geborgenheit in Familie und Partnerschaft, gleichzeitig sollen wir unsere sozialen Kontakte, reale und virtuelle, gewissenhaft pflegen.
Wir sollen konsumieren, um unseren Wohlstand zu genießen und damit nebenbei unsere Wirtschaft am Laufen halten, aber immer bewusst und nachhaltig, weil das den Planeten rettet.
Und das alles müssen wir perfekt inszeniert über soziale Medien mit der Welt teilen, damit nicht der Eindruck entsteht, wir führten ein langweiliges Leben. (Anm.: Ich bin mir bewusst, dass es etwas paradox ist, das auf einer Website zu veröffentlichen.)
Im Ergebnis spielen wir den ganzen Tag Hochgeschwindigkeitstheater in verschiedensten Rollen.
Was aber oft fehlt ist die Zeit für eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem eigenen ungeschminkten Selbst. Wir verbringen so viel Zeit damit, uns für andere in Szene zu setzen und uns optimiert zu präsentieren, dass wir vergessen, was uns im Kern eigentlich wichtig ist.
Schon in der Antike galt "Erkenne Dich selbst!" als erster Schritt zu einem gelungenen Leben. Aber dafür braucht es Zeit und Muße.
Nach meiner Erfahrung kann das Gestalten von Bonsais dazu ein paar Dinge beitragen:
- Entschleunigung
Du kannst einen Bonsai nicht schnell mal schneiden und fertig. Alle Gestaltungsschritte erfordern Ruhe, Überlegung und Konzentration. Du wirst die Hektik des Alltags hinter dir lassen müssen, sonst machst du Fehler. Und ist ein Ast einmal ab, ist er ab. - Geduld
Für jeden einzelnen Gestaltungschritt gibt es den optimalen Zeitpunkt im Jahreszyklus, und den gilt es abzuwarten. Manchmal hat man eine tolle Idee und brennt darauf, sie in die Tat umzusetzen, aber hier gilt es, sich zu zügeln, denn sonst könnte dein Bäumchen Schaden nehmen.
Auch dauert es oft Jahre oder gar Jahrzehnte, bis aus einem Bäumchen im Topf ein prächtiger Solitärbonsai wird. Und richtig fertig ist dein Bonsai sowieso nie. Aber dass du miterleben kannst, wie dein Bonsai sich mit jedem Schnitt und jedem Austrieb ganz langsam deiner Idealvorstellung annähert, ist die Belohnung für deine Geduld. - Kreativität
Um ein Bäumchen zu einem formschönen Bonsai zu formen, musst du zuerst eine ästhetische Zielvision für diese Pflanze entwickeln, die du dann nach und nach Realität werden lässt. Du erschaffst so eine einzigartige lebendige Skulptur bei deren Gestaltung du nur durch die Biologie der Pflanze und die Grenzen deiner Phantasie limitiert bist. - Achtsamkeit
Der Reiz beim Gestalten deines Bonsais liegt in der sukzessiven Harmonisierung von winzigen Details. Du musst kleine Veränderungen sehr bewusst wahrnehmen und dich mit ihnen auseinanderzusetzen, um sie in deine Formarbeit einzubauen. Das ruhige und konzentrierte Betrachten deines Bonsais, das dazu notwendig ist, hat stark meditative Züge. - Verantwortung
Die Pflege deines Bonsais verzeiht kaum Nachlässigkeiten.
Du musst dir immer bewusst sein, dass du einen lebenden Organismus pflegst, der absolut auf dich angewiesen ist. Da es sich biologisch gesehen meist um richtige Bäume handelt, die im Vergleich zu den natürlich wachsenden Artgenossen aber in einem engen Topf wurzeln, haben sie nur sehr begrenzte Reserven und reagieren empfindlicher auf Störungen wie Schädlingsbefall oder Trockenheit. - Naturverständnis
Du bekommst durch die Beschäftigung mit deinen Bäumchen Einblicke in wesentliche Vorgänge der Natur, weil du dir bestimmte Kenntnisse aneignen musst, um deine Bonsais gesund zu erhalten Dadurch erlebst du Wetter, Jahreszeiten, Wachstumsprozesse von Pflanzen etc. aus einer neuen Perspektive, weil deren Verständnis dir hilft, deine Gestaltungsziele zu erreichen. Das Smarte daran ist, dass dieses Erleben von Natur auch in der Großstadt, im Büro, einfach fast überall möglich ist. - Du erschaffst etwas von Dauer!
Da es sich bei den Bäumchen in der Schale rein biologisch betrachtet um ganz normale Bäume handelt, können sie bei guter Pflege einige Jahrzehnte oder im Einzelfall sogar Jahrhunderte alt werden. Dieser Aspekt tritt für mich mit zunehmendem Alter immer stärker in den Vordergrund. Ich finde den Gedanken tröstlich, dass etwas Lebendiges von mir in der Welt bleibt, auch wenn ich schon gegangen bin.